Einfühlsame Erziehung ist ein Ansatz, welcher die individuellen Gedanken und Gefühle von Kindern anerkennt. Eltern gehen davon aus, dass das Verhalten ihrer Kinder sinnvoll ist. Sie stellen sich zudem auf ihre Gefühle, Wünsche und Interessen ein. Sie deuten die Signale zur Kommunikation ihrer Kinder genau und sprechen mit ihnen über die Gedankenwelt ihres Kindes.

Dieses Konzept wird mit bedeutenden Vorteilen für die Entwicklung der Kinder in Verbindung gebracht. Zum Beispiel mit dem Aufbau von starken Freundschaften, einer besseren sozialen Kompetenz und vielleicht sogar einer besseren Selbstbeherrschung.

Ist es jemals zu früh, damit anzufangen? Ist es jemals zu früh, um ein Kind als einen Gesprächspartner zu behandeln und nach der Bedeutung seines Handelns zu suchen?

Die Psychologen Elizabeth Meins und Charles Fernyhough sagen nein. Es gibt sogar Grund zu der Annahme, dass diese Herangehensweise vor allem während des ersten Lebensjahres eines Babys wichtig ist.

Babys fühlen sich wohl, wenn die Eltern davon ausgehen, dass sie eigene Vorstellungen haben, und sich genügend Zeit dafür nehmen, herauszufinden, was ihre Babys denken und fühlen. Besonders Kinder profitieren davon, wenn sie „einfühlsame“ Eltern haben, die sich für die mentalen und emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder interessieren.

Solche Eltern verwenden das, was Meins und Fernyhough „geeignete, einfühlsame Kommentare“ nennen, und das passt wie die Faust aufs Auge.

Ich kann sehen, dass du dich mit deinem Spielzeug langweilst, wäre eine mögliche Aussage einer Mutter.

Ist das eine geeignete, einfühlsame Aussage? Das kommt ganz darauf an, ob sich das Baby langweilt oder nicht. Zeigt es Anzeichen von Interesse – starrt es das Spielzeug an und greift danach – dann ist die Aussage nicht angemessen. Um eine einfühlsame Erziehung zu praktizieren, muss die betreuende Person mehr tun, als über Gedanken und Gefühle zu sprechen. Sie sollten Aussagen machen, die zu dem passen, was gerade geschieht.

Dieser Unterschied ist entscheidend, denn angemessene, auf den Verstand bezogene Aussagen in der frühen Kindheit können eine Reihe von Entwicklungsergebnissen vorhersagen. Nachfolgend findest du die Einzelheiten hierzu.

Einfühlsame Erziehung hilft bessere Beziehungen aufzubauen

Es scheint albern, das Geplapper eines Babys als eine sinnvolle Unterhaltung zu betrachten.

Aber schon 1998 bemerkte Elizabeth Meins etwas: Mütter, die dazu neigen, den frühen Äußerungen ihrer Kinder eine Bedeutung zuzuschreiben, werden mit größerer Wahrscheinlichkeit Kleinkinder mit sicheren Beziehungen haben.

In weiteren Studien beobachteten Meins und ihre Kolleg/innen sechs Monate alte Babys, die mit ihren Müttern spielten. Dabei zählten sie Fälle von spontanem, einfühlsamem Sprachgebrauch. Besonders interessiert waren die Forscher/innen an geeigneten Aussagen. Das sind Äußerungen der Mütter, die ein genaues Gespür dafür zeigten, was ein Baby wirklich fühlte.

Nach sechs Monaten untersuchten die Forscher/innen die Beziehungen der Babys und stellten einen klaren Zusammenhang zwischen Erziehung und Verbundenheit fest. Mütter, welche mit ihrem Baby als es noch 6 Monaten alt war häufiger geeignete Aussagen machten, hatten mit größerer Wahrscheinlichkeit Babys, die mit 12 Monaten gefestigt in der Beziehung zur Mutter waren.

Weitere Studien bestätigen, dass frühe einfühlsame Kommunikation die Stärke der Beziehung vorhersagt. Aussagen mit einfühlsamen Worten wurden mit starken Beziehungen zu Vätern und Müttern in Verbindung gebracht. Sie wurden auch mit einer sicheren Beziehung zu Erziehern in Verbindung gebracht.

Als Forscher/innen in den Niederlanden dreijährige Kinder in Kindertagesstätten beobachteten, fanden sie heraus, dass Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit eine enge Verbundenheit mit einer Betreuungsperson eingehen, wenn diese oft einfühlsame Aussagen macht.

Einfühlsame Erziehung fördert soziales Gespür

Kinder, die eine einfühlsame Erziehung erfahren haben, haben nicht nur bessere Beziehungen, sondern auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu verstehen. Psychologen bezeichnen das als “ Theory of Mind“. Wie können Forscher/innen das feststellen?

Ein wichtiger Test ist die Aufgabe, die sich mit falschen Annahmen befasst. Bei dieser muss ein Kind zwischen dem, was wahr ist und dem, was eine andere Person (mit falscher Annahme) für richtig hält, unterscheiden. Ein Beispiel dafür ist die Aufgabe der falschen Annahme, die von Meins und Fernyhough durchgeführt wurde. Sie baten 5-Jährige, sich ein Puppenspiel anzusehen und anschließend einige Fragen zu beantworten.

Die Show begann mit Charlie, dem Krokodil, allein auf der Bühne. Er entleerte einen Milchkarton und füllte ihn dann mit Limonade auf.

Als nächstes kam Pia der Pinguin. Er war nicht anwesend, um Charlies Verhalten zu beobachten.

Die Forscher/innen erklärten den Kindern, dass Pia Milch mag und keine Limonade. Dann baten sie die Kinder, vorherzusagen, wie sich Pia fühlen würde, wenn sie die Milchtüte zum ersten Mal sieht. Würde Pia glücklich oder traurig sein?

Dann baten die Forscher/innen die Kinder, vorherzusagen, wie Pia sich fühlen würde, wenn sie es herausfindet. Wie würde sich Pia fühlen, nachdem sie in die Packung schaut und feststellt, dass dort Limonade und keine Milch drin ist?

Einige Vorschulkinder konnten Pias Gefühle richtig vorhersagen (z. B. dass sie zuerst fröhlich und dann enttäuscht sein würde). Diese Kinder waren mit höherer Wahrscheinlichkeit geeignet, da sie einfühlsame Aussagen gehört hatten, als sie noch jünger waren.

Die Ergebnisse wurden in anderen Studien wiederholt. In einer Studie beobachteten die Forscherinnen und Forscher zum Beispiel Mütter. Diese spielten mit ihren 12 Monate alten Babys, die Forscher/innen stellten fest, wie oft die Eltern angemessene, einfühlsame Aussagen machten. Anschließend untersuchten sie die Theory of Mind, als die Kinder 4 Jahre alt waren. Angemessenes einfühlsames Sprechen zu Babys im Alter von 12 Monaten sagte voraus, dass das Kind die Aufgabe im Alter von 4 Jahren meistern würde.

In einer ähnlich aufgebauten Studie fanden Forscher/innen heraus, dass angemessenes einfühlsames Sprechen im Säuglingsalter im Alter von 51 Monaten sowohl das Verständnis von Emotionen als auch die Leistung des Kindes bei einer solchen Aufgabe vorhersagte.

Andere Studien zeigen, dass der frühe Einsatz angemessener, einfühlsamer Aussagen durch die Mutter die Fähigkeit des Kindes zur Wahrnehmung der eigenen Gedanken im Vorschul- und frühen Grundschulalter positiv beeinflusst.

Ist es wirklich das Gespräch, das zählt? Oder die Haltung? Rory Devine und Clair Hughes sind dieser Frage in einer aktuellen Studie auf den Grund gegangen.

Die Forscher/innen verfolgten 117 Vorschulkinder und ihre Eltern 13 Monate lang. Sie maßen sowohl wie einfühlsam Eltern mit ihren Kindern sprachen und zudem die „Neigung der Eltern, Kinder als denkende Persönlichkeiten zu betrachten“. Außerdem testeten sie das Verständnis der Kinder für fehlerhafte Annahmen.

Welche pädagogische Maßnahme hatte mehr Einfluss auf die Ergebnisse der Kinder? Es stellte sich heraus, dass nur das Reden – das Gespräch über Gedanken und Emotionen – bessere Fähigkeiten in der Theory of Mind voraussagte.


Und was ist mit der Ursache?

Diese Studien zeigen nur Zusammenhänge auf. Sie erlauben nicht die Schlussfolgerung, dass eine einfühlsame Erziehung die Kinder dazu bringt, eine engere Beziehung einzugehen oder bessere Denkfähigkeiten zu entwickeln.

Möglicherweise spiegeln diese Ergebnisse bestimmte Erbanlagen wider, die Eltern mit ihren leiblichen Kindern teilen, Gene, die die Entwicklung aller drei Eigenschaften – Einfühlungsvermögen, Sicherheit der Beziehungen und frühes Verständnis von Gedanken anderer- fördern.

In diesem Fall ist das Einfühlungsvermögen nicht so sehr die Ursache für die Sicherheit der Beziehung und die frühe Beherrschung der Erkennung falscher Annahmen. Es ist ein wechselseitiger Zusammenhang.

Doch es gibt Beweise, die dagegen sprechen.

In der oben erwähnten Studie über Kindertagesstätten waren die Vorschulkinder nicht mit ihren Erzieherinnen verwandt. Dennoch war der Zusammenhang zwischen einfühlsamen Aussagen und einer starken Beziehung vorhanden.

Und eine Zwillingsstudie – die sich der Werkzeuge der Verhaltensgenetik bedient – ergab, dass genetische Faktoren einen unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung von diesen Fähigkeiten haben.

Außerdem spricht einiges dafür, dass Kinder durch Gespräche über ihre Gedanken die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Sichtweisen verbessern.

Zum Beispiel haben Forscher/innen, welche die Entwicklung von Geschwistern verfolgt haben, ein aussagekräftiges Verhalten festgestellt: Ein älteres Geschwisterkind fördert die Entwicklung der Theory of Mind. Bei einem jüngeren Geschwisterkind ist das nicht der Fall. Genau das würden wir erwarten, wenn Kinder beim Spielen von dem Sprachgebrauch der älteren, gesellschaftlich erfahreneren Menschen lernen würden.

Auch die kulturübergreifenden Erkenntnisse sind vielversprechend.

In Kulturen, in denen Gespräche über Geisteszustände nicht erwünscht sind, verzögern Kinder die Entwicklung der Theory of Mind erheblich. Sie kommen zwar irgendwann ans Ziel, aber das kann Jahre dauern.

Forscher/innen haben zumindest ein randomisiertes, kontrolliertes Experiment zu diesem Thema durchgeführt. Nachdem Heidemarie Lohman und Michael Tomasello die Ergebnisse der falschen Annahme bei 3-Jährigen ermittelt hatten, teilten sie die Kinder in zwei Gruppen ein.

Die Kinder in beiden Gruppen unterhielten sich mit einem Erwachsenen, der ihnen seltsame, irreführende Gegenstände zeigte, wie zum Beispiel einen Stift, der die Gestalt einer Blume hatte. Allerdings unterschieden sich die Gespräche leicht.

In der ersten Gruppe sprach der Erwachsene mit den Kindern darüber, dass die Gegenstände trügerisch sind, und verwendete dabei Begriffe wie „denken“ und „wissen“. Der Erwachsene könnte zum Beispiel fragen: „Was denkst du, was das ist?… Dachtest du, es sei eine Blume? ….“

In der anderen Gruppe sprach der Erwachsene über die Gegenstände, benutzte aber keine Begriffe für den Zustand des Gegenstands („Was ist das? … Es ist eine Blume … Du kannst damit schreiben …“).

Nach diesen Einheiten überprüften die Forscher/innen erneut das Verständnis der Kinder in Bezug auf falsche Annahmen. Die Kinder, in der ersten Gruppe, schnitten bei der Aufgabe zu den falschen Aussagen besser ab. Sie zeigten auch ein besseres Verständnis für den Unterschied zwischen Schein und Realität.

Wie hängt einfühlsame Erziehung mit Entwicklung der Selbstkontrolle zusammen?

Auf den ersten Blick mag das vielleicht etwas weit hergeholt erscheinen. Doch Studien zeigen, dass Kinder, die starke Beziehungen haben, bessere Fähigkeiten der Selbstkontrolle haben. Sie können ihre Impulse besser steuern, Regeln besser internalisieren und Belohnungen aufschieben.

Es ist außerdem naheliegend, dass Theory of Mind-Fähigkeiten zur Selbstkontrolle beitragen können. Wenn Kinder in der Lage sind, die Gedanken und Gefühle anderer zu verstehen, können sie die Absichten anderer wahrnehmen und ihr Verhalten vorhersagen. Dadurch fällt es ihnen leichter zu erkennen, wie ihre Bemühungen zur Selbstbeherrschung belohnt werden.

Auch das Erlernen der Ausdrucksweise von Gedankengängen ist für die Selbstbeherrschung von Nutzen. Kleine Kinder lernen, auf Kurs zu bleiben, indem sie mit sich selbst reden – laut oder innerlich.

Eine einfühlsame Erziehung kann also indirekt die Selbstbeherrschung fördern, indem sie sichere Beziehungen und die Theory of Mind stärkt. Es kann auch helfen, wenn Kinder eine Sprache lernen, die sie nutzen können, um ihre Impulse und Stimmungen zu kontrollieren.

Gibt es Studien, die diese Ideen unterstützen? Einfühlsamkeit und Selbstbeherrschung sind nicht so intensiv untersucht worden. Aber die vorhandenen Studien sprechen für sich.

In einer Studie, in der kanadische Babys beobachtet wurden, fanden Forscher/innen heraus, dass eine einfühlsame Erziehung im Säuglingsalter eine bessere Selbstkontrolle bei 18 Monate alten Kleinkindern voraussagte.

Und eine neuere Studie mit chinesischen Kindern ergab, dass einfühlsame Erziehung im Alter von 9 Monaten eine bessere Selbstkontrolle im Alter von 2-3 Jahren bewirkte.

Vor allem konnten diese Kinder ihre Impulse besser steuern und entschieden sich eher dafür, Belohnungen hinauszuzögern, wenn sie dadurch eine größere Belohnung in der Zukunft erhielten.

Erstaunlicherweise waren andere Faktoren – wie das Bildungsniveau und das Einkommen der Eltern – nicht ausschlaggebend. Auch die mütterliche Sensitivität, d. h. die Neigung, sofort auf die körperlichen und emotionalen Bedürfnisse des Babys zu reagieren, spielte keine Rolle.

Die Forscherinnen und Forscher schließen daraus, dass einfühlsame Erziehung – einschließlich angemessener Gespräche – mehr ist als „nur“ die Wahrnehmung der Bedürfnisse eines Kindes und die Bereitstellung der körperlichen Bedürfnisse. Dadurch können Kleinkinder Selbstkontrolle entwickeln.

Was kann man zusammenfassend zu einfühlsamer Erziehung sagen?

Bestimmte Verhaltensweisen, welche wir in Familien beobachten, sind auf genetische Merkmale zurückzuführen. Unsere Gene können dazu führen, dass wir bestimmte Fähigkeiten besser oder weniger gut entwickeln.

Aber es gibt gute Beweise dafür, dass es auf die Erziehung und Betreuung ankommt und das gilt besonders für sichere Beziehungen und Theory of Mind-Fähigkeiten.

Einfühlsame Elternschaft – die sich auf andere einlässt und verständnisvolle Aussagen über ihre Gedanken macht – stärkt die gesellschaftlichen Beziehungen und hilft Kindern, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu verstehen. Außerdem gibt es Grund zu der Annahme, dass einfühlsame Erziehung Kindern helfen kann, eine bessere Selbstkontrolle zu entwickeln.

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/lachelndes-baby-das-auf-weisser-matte-liegt-1648377/

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