Studien berichten von einem direkten Zusammenhang zwischen Fernsehen und der Sprachentwicklung von Kleinkindern. Je mehr Zeit Kinder vor dem Fernseher verbringen, desto langsamer lernen sie zu sprechen. Was geht hier vor?

Manche Menschen kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Auswirkungen des Fernsehens auf Kinder direkt schädlich sind. Dieser Ansicht nach ist das Fernsehen genauso schädlich wie der Rauch von Zigaretten. Zigaretten schädigen die Lunge. Fernsehen schädigt den Verstand. Aber Zusammenhang ist nicht gleich Zusammenhang, und eine gründlichere Beurteilung des Problems führt zu einer ganz anderen Schlussfolgerung:

Fernsehen wird mit einem langsameren Spracherwerb in Verbindung gebracht, denn die Fernsehzeit verdrängt die Gespräche zwischen Babys und Eltern.


Auswertungen von Studien

Bislang gibt es keine eindeutigen Beweise dafür, dass Fernsehen – in Maßen – zu langfristigen Defiziten in der kognitiven Entwicklung führt. Das heißt aber nicht, dass es keine Bedenken oder Gründe zur Besorgnis gibt.

Es ist offensichtlich, dass ungeeignete Fernsehsendungen verstörend sein können. Wenn Kinder gewalttätige oder beunruhigende Sendungen im Fernsehen sehen, können sie sich bedroht fühlen. Das kann zu emotionalem Stress und Verhaltensstörungen führen. Außerdem kann das Fernsehen den Schlaf stören und ein gestörter Schlaf kann die Konzentrations- und Lernfähigkeit eines Kindes beeinträchtigen.

Forscher vermuten auch, dass bestimmte Inhalte die Entwicklung der Aufmerksamkeitsfähigkeit beeinträchtigen können.

Studien zum Zusammenhang zwischen Fernsehen und Sprachentwicklung

In einer Studie verfolgten Frederick Zimmerman und Dmitri Christakis Kleinkinder über einen längeren Zeitraum und suchten nach Zusammenhängen zwischen frühen Fernsehgewohnheiten (vor dem 3. Lebensjahr) und späteren Problemen mit der Konzentration. Die Forscher/innen fanden keinen Zusammenhang zwischen dem Anschauen hochwertiger, altersgerechter Bildungsinhalte und Aufmerksamkeitsproblemen. Anders verhielt es sich bei gewalttätigen Inhalten und bei nicht bildungsbezogener Unterhaltung. Wenn Kinder vor ihrem dritten Lebensjahr gewalthaltige oder bildungsferne Fernsehsendungen sahen, war die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie im Alter von 4 oder 5 Jahren Probleme mit der Konzentration bekamen.

Woran liegt das? Manche Forscherinnen und Forscher vermuten, dass die Probleme durch das schnelle Tempo und die abrupten Schnitte der Sendungen verursacht werden. Doch die Beweise sind unterschiedlich. Wir benötigen mehr Studien, um das herauszufinden.

Ein weiteres Thema ist das Fernsehen im Hintergrund – also das, was Kinder erleben, wenn sie in einem Raum spielen oder lernen, in dem ein Fernseher eingeschaltet ist.

Wie zu erwarten, kann das Fernsehen im Hintergrund ablenkend wirken. In einem Experiment wurde festgestellt, dass Kinder weniger konzentriert spielen, wenn im Hintergrund ein Fernseher läuft.

Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass regelmäßiges Laufen eines Fernsehers im Hintergrund zur Entwicklung von Problemen mit der Konzentration führen könnte. Und das Fernsehen im Hintergrund kann Kinder mit verstörenden Inhalten konfrontieren. Deshalb warnen Psycholog/innen Eltern davor, gewalttätige oder andere ungeeignete Inhalte zu schauen, während ihre Kleinkinder anwesend sind.

Es gibt also Grund zu der Annahme, dass der Fernsehkonsum Probleme beim Spracherwerb verursachen könnte, aber nicht, weil das Fernsehen an sich schädlich ist.

Positive Auswirkungen von Fernsehen auf die Sprachentwicklung

Manchmal kann das Fernsehen sogar nützlich sein. In einer Studie, in der Kinder ab dem Alter von 6 Monaten beobachtet wurden, entdeckten Forscher/innen einen guten Zusammenhang zwischen dem Wachstum des Wortschatzes und dem Anschauen bestimmter Bildungsprogramme. Im Vergleich zu Kindern, die kein Fernsehen sahen, erwarben Kinder, die Arthur, Clifford, Blue’s Clues, Dragon Tales oder Dora the Explorer sahen, bis zum 30. Lebensmonat tatsächlich mehr Vokabeln.

Was bedeutet das im Großen und Ganzen? Wie ist der allgemeine Trend bei den Studien? Bei der Auswertung von 76 veröffentlichten Studien fanden die Forscherinnen und Forscher Hinweise darauf, dass Kinder im Vorschulalter von qualitativ hochwertigem, lehrreichem Fernsehen profitieren.

Warum ist Fernsehen also ein Problem für Kinder, die sprechen lernen?

Nach den bisherigen Erkenntnissen der Forscher/innen geht es eher um verpasste Chancen.

Babys und Kleinkinder lernen das Sprechen am besten, wenn wir sie in ein Gespräch unter vier Augen verwickeln. Verbringen Kleinkinder also viel Zeit vor dem Fernseher – und versäumen so die Möglichkeit, sich zu unterhalten – sind sie im Nachteil. Wenn es darum geht, Sprechen zu lernen, geht nichts über ein persönliches lebhaftes Gespräch

Patricia Kuhl, eine leitende Forscherin im Bereich des Spracherwerbs, hat dies in einigen eindrucksvollen Experimenten mit Babys nachgewiesen.

Kuhl und ihre Kollegen haben 9 Monate alte amerikanische Babys mit einer fremden Sprache konfrontiert – Mandarin (chinesischer Dialekt). In einem Experiment durften die Babys mit einer authentischen, leibhaftigen Sprecherin in Mandarin interagieren. Nach 12 Treffen zeigten diese Babys eine verbesserte Fähigkeit, bestimmte Sprachlaute zu unterscheiden, die in Mandarin üblich sind.

Als das Experiment jedoch mit einer anderen Gruppe von Babys wiederholt wurde, die nur Sprachlehrer/innen im Fernsehen sahen, waren die Ergebnisse anders. Die Babys, die durch das Fernsehen mit Mandarin in Kontakt kamen, konnten die Sprachlaute von Mandarin nicht besser unterscheiden als die Kinder in der Kontrollgruppe.

In beiden Experimenten blickten die Mandarin-Sprecher/innen die Babys direkt an, sprachen über Spielzeuge und benutzten diesen speziellen, „babyfreundlichen“ Sprachstil, der als „Babysprache“ bekannt ist.

Der einzige Unterschied zwischen den Experimenten war der menschliche Faktor. Kuhl stellt fest: „Babys sind offenbar keine Roboter, sondern brauchen beim Lernen einer Sprache ein Umfeld, das sie anleitet.“
Studien deuten darauf hin, dass Gespräche – im Gegensatz zum Zuhören von Geschichten oder dem Fernsehen – den stärksten Einfluss auf die frühe Sprachentwicklung haben.

Dieser Gedanke wird durch eine Studie bestätigt, bei der Kleinkinder im Alter von null bis vier Jahren mit Tonbandgeräten ausgestattet wurden.

Die Geräte ermöglichten es den Forscher/innen, objektiv zu messen, wie viel Erwachsenengespräche und Fernsehen jedes Kind erlebte. Und die Ergebnisse waren verblüffend.

So verbessern sich Sprachkenntnisse

Die Forscherinnen und Forscher fanden heraus, dass interagierende Gespräche – also persönliche Unterhaltungen zwischen Eltern und ihren Kindern – mit einer besseren Sprachentwicklung verbunden sind. Je mehr Zeit Babys und Kleinkinder in die Gespräche der Eltern einbezogen wurden, desto schneller verbesserten sich ihre Sprachkenntnisse.

Hingegen war das Zuhören von Monologen der Eltern – einschließlich des Erzählens von Geschichten – nur schwach mit der Sprachentwicklung verknüpft. Der Lerneffekt von wechselseitigen Gesprächen war fast sechsmal größer als der Effekt des bloßen Zuhörens von Gesprächen zwischen Erwachsenen.

Und Fernsehen? Unter Berücksichtigung der Zeit, die die Kinder mit Gesprächen verbrachten, war der Effekt des Fernsehens auf die Kinder weder gut noch schlecht.

Das ist zwar nur eine Studie, aber nachfolgende Untersuchungen bestätigen, dass Kinder am besten durch direkte Gespräche lernen können.

Je mehr Zeit Kinder im Gespräch mit Erwachsenen verbringen, desto eher werden sie einen größeren Wortschatz entwickeln. Einfach nur zuhören, wenn Erwachsene reden? Kinder lernen gelegentlich so. Generell lernen Kinder jedoch viel mehr, wenn sie an Gesprächen teilnehmen, als wenn sie nur am Rande zuhören.
Wie sieht es mit anderen Erfahrungen auf dem Bildschirm aus, wie z. B. Videochat-Technologie? Können Kleinkinder eine Sprache lernen, indem sie sich mit jemandem per Videochat unterhalten?

Möglicherweise. Aber das hängt wahrscheinlich davon ab, ob das Kind versteht, wie sich Videochats vom herkömmlichen, passiven Fernsehgucken unterscheiden. Kinder müssen erkennen, dass sie an einem wahren, lebhaften Gespräch beteiligt sind.

Um zu verstehen, was ich meine, schau dir eine Studie an, die von Sarah Roseberry und ihren Kolleg/innen durchgeführt wurde. Die Forscher/innen wiesen einer Gruppe von Kleinkindern (24-30 Monate) nach dem Zufallsprinzip eine von zwei Arten von Gesprächen mit Erwachsenen zu:

  • einen Erwachsenen, der live über Skype mit ihnen sprach, oder
  • einen Erwachsenen, der scheinbar über Skype kommunizierte, in Wirklichkeit aber vorher aufgezeichnet wurde.

In beiden Fällen versuchten die Kleinkinder, mit dem Erwachsenen zu kommunizieren, doch nur der Erwachsene welcher in Echtzeit mit ihnen interagierte, reagierte angemessen auf die Aussagen, Fragen oder den Gesichtsausdruck der Kinder.

Die gefilmten Erwachsenen kommunizierten wie ein Moderator einer Fernseh-Talkshow – sie schienen ein Publikum anzusprechen, aber sie waren nicht in der Lage, auf das, was die Kinder taten oder sagten, zu reagieren.

Nach diesen Tests wurden die Kleinkinder gefragt, ob sie die neuen Wörter, die der Erwachsene benutzt hatte, gelernt hatten. Das Ergebnis? Nur die Kinder, die an realen, lebhaften Gesprächen teilgenommen hatten, lernten die neuen Vokabeln.

Diese Ergebnisse wurden durch eine neuere Studie bestätigt, in der Forscher/innen einen ähnlichen Test mit noch viel jüngeren Kindern (12-25 Monate) durchführten. Babys, die an einem interaktiven Online-Chat teilnahmen, lernten dadurch.

Ja, Kleinkinder können also von Videochats lernen. Aber das hängt wahrscheinlich davon ab, ob die Kinder persönliche Nähe spüren.

In beiden Studien zu Videochats begannen die Kinder nicht damit, eine fremde Person auf einem Bildschirm zu beobachten. Die Videochats begannen mit einer Kennenlernzeit, in der die Erwachsenen die Kinder mit ihrem Namen begrüßten und sie baten, auf Fragen zu ihren letzten Aktivitäten zu antworten (z. B. „Spielst du gerne mit Klötzen?“).

Diese Hilfsmittel haben den Kindern wahrscheinlich geholfen zu erkennen, dass sie von einem realen Menschen angesprochen werden. Und das kann entscheidend sein. Als Forscher/innen versucht haben, Kinder zu testen, ohne diese Schritte zu unternehmen, konnten die Kleinen nicht aus dem Live-Videochat lernen.


Was ist also die Schlussfolgerung?

Es scheint, dass bestimmte Inhalte auf dem Bildschirm – gewalttätige, nicht altersgerechte Inhalte – Stress auslösen und (möglicherweise) zu Problemen mit der Aufmerksamkeit beitragen können. Darüber hinaus kann Fernsehen schlafstörend sein. Außerdem kann das Fernsehen im Hintergrund die Aufmerksamkeit eines Kindes beeinträchtigen.

Aufgrund dieser Faktoren – und da die wissenschaftlichen Erkenntnisse über mögliche Vorteile für Babys nicht eindeutig sind – rät die AAP (American Academy of Pediatrics) von der Nutzung von Geräten mit Bildschirmen (außer Videochats) für Kinder unter 18 Jahren ab.

Älteren Kindern empfiehlt die AAP, dass Eltern „die Nutzung von Geräten mit Bildschirmen auf maximal eine Stunde qualitativ hochwertiger Programme pro Tag beschränken“ und dass Kinder Medien gemeinsam mit ihren Bezugspersonen konsumieren – nicht alleine.

Doch wenn es darum geht, das Sprechen zu lernen, ist die wichtigste Erkenntnis der Effekt von Vier-Augen-Gesprächen zwischen Kindern und Eltern.

Es geht nicht darum, dass das Fernsehen Sprachverzögerungen verursacht. Es geht darum, dass Kinder am meisten davon profitieren, wenn sie sich mit anderen Menschen unterhalten. Die Zeit vor dem Bildschirm kann zu Problemen führen, wenn sie die Zeit für Gespräche und andere wichtige Aktivitäten in der echten Welt verdrängt, die die Entwicklung fördern. Das Beste, was wir tun können? Unseren Kindern viele Gelegenheiten geben, zu sprechen, zu erforschen, Fragen zu stellen und zu antworten.

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/schwarzer-crt-fernseher-mit-grauem-bildschirm-704555/

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