In seinem Forschungsbericht stellt Stephen Norris fest, dass kritisches Denken bei Kindern selten vorkommt:

„Die meisten Schülerinnen und Schüler schneiden bei Tests, die die Fähigkeit messen, Annahmen wahrzunehmen, Argumente zu bewerten und Schlussfolgerungen zu ziehen, nicht gut ab“.

Wieso ist kritisches Denken so anspruchsvoll? Einige behaupten, dass der Mensch nicht dafür geschaffen ist.

Demnach hat uns die Evolution nicht für abstraktes, logisches Denken ausgerüstet. Vielmehr hat die natürliche Selektion das menschliche Hirn so geformt, dass es spezifische, evolutionär relevante Probleme lösen kann – wie das Vermeiden von Raubtieren oder das Erkennen von Menschen, die Regeln brechen.

Möglicherweise haben diese Leute Recht. Das will ich hier nicht bestreiten. Stattdessen möchte ich einen anderen Aspekt ansprechen:

Wir vermitteln unseren Kindern oft ein falsches oder unlogisches Denken.

Meine Beweise?

Die folgenden Beispiele aus dem Alltag zeigen, wie Fernsehen, Bücher, Lernsoftware und sogar manche Lehrerinnen und Lehrer kritisches Denken bei Kindern unterbinden.

Wie Kinder vom kritischen Denken abgehalten werden

Wie ist es mit dieser Szene aus Disneys „Mickey Mouse Playhouse“, einer Fernsehsendung für Kinder im Kindergartenalter.

Minnie Maus – Mickeys Freundin – hat ein Problem. Sie hat Geschenke eingepackt, darunter auch eine Schleife (wie die auf ihrem Kopf).

Doch Minnie hat vergessen, die Geschenke zu beschriften und weiß nun nicht mehr, in welchem die Schleife ist.

Es gibt drei Möglichkeiten: eine kleine, eine mittlere und eine große Schachtel.

Minnie fragt: In welchem Geschenk könnte die Schleife sein?

Sie streckt ihre Hände aus, um uns zu zeigen, wie groß die Schleife ist. Sie vergleicht ihn mit der Größe der Schachteln. Die Schleife scheint zu groß für die kleinste Schachtel zu sein. Aber sie scheint in die anderen beiden zu passen.

Die Antwort ist also, dass die Schleife entweder in der mittelgroßen oder in der großen Schachtel sein könnte. Richtig?

Falsch!

Minnie sagt uns, dass die Schleife in der mittleren Schachtel sein MUSS.

Warum lehnt Minnie die logische Schlussfolgerung ab, dass die Schleife in der großen Schachtel sein könnte?

Wahrscheinlich, weil die Autoren nicht richtig nachgedacht haben und nicht sagten, was sie meinten.

Offensichtlich wollten sie eigentlich Folgendes fragen:

„Welches ist die kleinste Schachtel, in die die Schleife passen könnte?“

Aber es besteht auch die Möglichkeit, dass die Schleife in die kleinste Schachtel passt. Die Schleife scheint zu groß für die kleinste Schachtel zu sein. Aber was wäre, wenn Minnie die Schleife zusammengefaltet oder zusammengerollt hätte, damit sie hineinpasst?

Die Autoren hätten also folgende Frage stellen sollen:

„Welches ist die kleinste Schachtel, in die die Schleife passen könnte – angenommen, Minnie hat die Schleife nicht zusammengefaltet?“

Klingt das pingelig oder kleinlich? Vielleicht ist es das für die Autoren der Micky-Maus-Show. Doch ich bitte wirklich nur um etwas gesunden Menschenverstand.

Im richtigen Leben knautschen die Leute Dinge auch in zu kleine Schachteln und verpacken sie manchmal auch in Kartons, die ein bisschen größer sind als nötig. Warum sollten wir – die Zuschauerinnen und Zuschauer – annehmen, dass sie das nicht tun?

Die Antwort ist, dass wir das wir einfach nicht sollen. Es sei denn, wir kennen uns mit Minnie Mouse aus. Oder wir wissen, was ihre unausgesprochenen Annahmen sind.

Und genau das ist der springende Punkt. Ich weiß nicht, was in Minnie Maus‘ Kopf vorgeht, und ich nehme an, dass meine Kinder das auch nicht tun. Die Autoren der Micky-Maus-Show forderten uns auf, das Problem anhand der Informationen über die Größe der Schleife und die Größe der Schachteln zu lösen.

Kritisches Denken bedeutet, dass wir alle Optionen in Betracht ziehen, nicht nur diejenige, die die Maus für die wahrscheinlichste hält.

Was passiert, wenn dein Kind so etwas sieht? Ich glaube, dass die Micky-Maus-Show etwas ganz anderes lehrt als kritisches Denken. Sie lehrt Kinder das angepasste Denken. Sie sehen Probleme nicht objektiv oder logisch an. Stattdessen überlegen sie sich, was die Autoritätsperson von ihnen hören will.

Vielleicht fragst du dich, ob kleine Kinder wirklich auf diese Weise denken. Sollen Kinder – wie der Junge in der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern – nicht ihre Meinung sagen?

Doch Experimente legen nahe, dass Kinder im Kindergarten durch die Aussagen von autoritären Erwachsenen eingeschränkt werden.

Wenn Erwachsene ihnen sagen, wie etwas funktioniert, hinterfragen Kinder das nicht. Sie verhalten sich so, als hätten die Erwachsenen ihnen schon alles gesagt, was sie wissen müssen. Sie sind weniger neugierig und haben weniger Lust, auf eigene Faust zu forschen.

Nicht nur Minnie Mouse: Wie schulische Erfahrungen das kritische Denken bei Kindern hemmen

Es ist schon schlimm genug, wenn Kindersendungen im Fernsehen das kritische Denken schwächen. Aber was ist mit Schulbüchern, Lernsoftware und tagtäglichen Erfahrungen im Klassenzimmer?

Ich habe den Trugschluss der Minnie Mouse in einem Buch gefunden, das Vorschulkindern mathematische Konzepte beibringen soll. In diesem Fall wurde der Leser aufgefordert, die richtigen Vogelhäuser für die verschiedenen (unterschiedlich großen) Vögel zu finden.

Und es gibt noch viele andere unlogische oder fehlerhafte Lerninhalte, die Kindern beigebracht werden.

Nehmen wir das Beispiel, welches die Schulpsychologen Clements und Sarama (2000) beschrieben haben:

Die junge Leah spielt ein Computerspiel, das Geometrie lehrt. Sie wird aufgefordert, einen Fisch auszuwählen, der die Form eines Quadrats hat.

Leah wählt einen Fisch mit einem perfekt quadratischen Körper, doch die Form ist so gedreht, dass eine der Ecken gerade nach unten zeigt.

Das Programm sagt Leah, dass sie sich geirrt hat. Das sei kein Quadrat. Es ist ein “ Rautenfisch“!

Oh-oh. Ist ein Quadrat nur dann ein Quadrat, wenn zwei seiner Seiten waagerecht sind?

Clements und Sarama berichten von weiteren Fehlern, darunter diese falschen Vorstellungen, die Erzieherinnen und Erzieher nachweislich an ihre beeinflussbaren Schüler/innen weitergeben:

  • Alle Rauten sind Quadrate
  • Ein Quadrat ist kein Rechteck
  • Wenn du zwei Dreiecke zusammenlegst, erhältst du ein Quadrat
  • Wenn du ein Quadrat halbierst, erhältst du ein Dreieck

Und dergleichen mehr. Du verstehst schon.

Inwiefern ist das wichtig?

Natürlich wollen wir nicht, dass Menschen unseren Kindern etwas Unlogisches und Falsches beibringen. Aber wie viel Schaden entsteht dadurch wirklich?

Eine ganze Menge, würde ich sagen. Im Fall von Minnie Mouse lernt das Kind, mit Scheuklappen zu denken. Sie berücksichtigen nicht alle Möglichkeiten. Sie halten sich an die gängigen Lösungen.

Im Fall des Quadrats, das angeblich kein Quadrat ist, lernen Kinder schlechte Tatsachen und verlieren die Möglichkeit, eine schlüssige geometrische Grundlage zu entwickeln.

Die Folgen können lang anhaltend sein. Clements und Sarama berichten, dass 6-Jährige ihre falschen Vorstellungen über Geometrie bis zur Mittelstufe beibehalten können.

Was ist mit Minnie? Die Kinder, die Minnies Test bestehen, sind sozial sehr sensibel. Sie erkennen die implizierten Vermutungen ihrer Lehrer/innen und sagen ihren Lehrer/innen, was sie hören wollen. Und werden dafür belohnt, bis sie auf einen logischen, weniger stark sozial geprägten Lehrer treffen. Oder auf einen logischen Test. Und dann fallen diese Kinder vielleicht zum ersten Mal durch.

Was dann? Ziehen diese Kinder den Schluss, dass sie nicht für die anspruchsvollen Kurse in Mathematik oder Naturwissenschaften geeignet sind? Möglicherweise.

Wie bringen wir unseren Kindern mehr kritisches Denken bei?

Versuche zeigen, dass wir Schülern der Mittelstufe und vielleicht sogar jüngeren Kindern die Fähigkeit zum kritischen Denken beibringen können.

Und was ist mit Eltern, die sehr kleine Kinder haben – Kinder, die vielleicht gerade Micky Maus schauen?

Zunächst einmal sollten wir eine wichtige Feststellung zur Kenntnis nehmen: Schon vor dem fünften Lebensjahr verstehen Kinder, dass Behauptungen, die durch Beweise gestützt werden, besser sind als solche, für die es keine Beweise gibt.

Sie wissen beispielsweise, dass es nicht ausreicht, wenn du behauptest, zu wissen, was in einem Behälter ist. Hast du nicht nachgeschaut, ist es wahrscheinlicher, dass sie deine Behauptung als unglaubwürdig einstufen.

Deshalb sind schon kleine Kinder in der Lage, über die Grundlagen der Wahrheitsfindung zu sprechen. Woher weißt du das? Hast du nachgesehen? Hast du es überprüft?

Aber es gibt eine Schwierigkeit.

Wie bereits erwähnt, folgen kleine Kinder auch gerne unserem Beispiel.

Das ist eine sehr nützliche Eigenschaft für eine Spezies, die auf die Vermittlung von zwischenmenschlichen Informationen angewiesen ist. Kinder sind gute Nachahmer. Aber ihr Eifer, uns zu folgen, hat auch eine Kehrseite. In Experimenten waren Kinder, die von Erwachsenen unterrichtet wurden, weniger wissbegierig. Sie probierten seltener andere Wege aus, etwas zu tun.

Wenn zum Beispiel ein Erwachsener Vorschulkindern ein neues Spielzeug zeigte, hing das anschließende Handeln der Kinder davon ab, wie sich der Erwachsene verhielt.

Wenn der Erwachsene sich wie ein Lehrer verhielt und erklärte, wie man das Spielzeug „richtig“ bedient, hielten sich die Kinder sehr genau an die Anweisungen des Lehrers.

Verhält sich die erwachsene Person jedoch ahnungslos – als ob sie nicht wüsste, wie es funktioniert -, untersuchen die Kinder die Funktionen des Spielzeugs sorgfältiger.

Die Kinder entdeckten eher alternative Wege, das Spielzeug zu nutzen – auch solche, die besser funktionierten als der „richtige“ Weg, den die Lehrerin vorgab.

Wenn wir kritisches Denken fördern wollen, ist es also ein guter erster Schritt, Kindern die Möglichkeit zu geben, zu tüfteln, zu probieren und zu experimentieren – ohne ihnen zu sagen, was sie erwartet.

Außerdem sollten wir die Aussagen überprüfen, die unsere Kinder mitbekommen – von Menschen, Büchern, elektronischen Medien – und die Irrtümer, die wir entdecken, mit unseren Kindern besprechen. Wir müssen unseren Kindern beibringen, dass auch kluge, angesehene Erwachsene manchmal Fehler machen.

Und vor allem brauchen unsere Kinder positives Feedback, wenn sie kritisch und logisch denken und ungewöhnliche Problemlösungen vorschlagen. Bevor wir die Antwort eines Kindes korrigieren, sollten wir darüber nachdenken, ob sie wirklich fehlerhaft ist.

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/madchen-kind-student-labor-8471946/

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