Warum fallen wir auf Irrtümer herein? Warum lassen wir uns von Lügen täuschen? Es liegt nicht daran, dass es uns an Grips mangelt, und es liegt auch nicht daran, dass wir unsere eigenen Vorurteile nicht überwinden können. Entscheidend ist vielmehr, ob wir uns die Zeit nehmen, innezuhalten und nachzudenken – um unsere Vermutungen bewusst zu hinterfragen und die Beweise zu analysieren.

Hier ist eine Probefrage, die du beantworten kannst.

„Auf einem leeren Feld gibt es ein Fleckchen Löwenzahn. Jeden Tag verdoppelt sich die Größe des Fleckchens. Wenn es 48 Tage dauert, bis der Fleck das ganze Feld bedeckt, wie lange würde es dann dauern, bis er die Hälfte des Feldes bedeckt?“

Nur zu. Denk drüber nach.

Die Frage ist eine Variante eines Tests, den Shane Frederick, ein Psychologe, der sich mit Entscheidungsprozessen beschäftigt, erfunden hat. Im Jahr 2005 hat er eine Reihe solcher Fragen zusammengestellt, und im Laufe der Zeit haben Forscher seinen Test an Hunderttausenden von Menschen durchgeführt.

Wie war deine Antwort?

Da du weißt, dass dieser Artikel von kritischem Denken handelt, bist du der Frage vermutlich mit Vorsicht begegnet. Du hast einen Moment innegehalten, um nachzudenken und zu analysieren. Du wolltest sichergehen, dass deine Antwort gut überlegt ist.

Doch wenn du nicht innegehalten und nachgedacht hättest – wenn du schnell geantwortet hättest, wenn du abgelenkt gewesen wärst, wenn du Angst vor der Aufgabe hattest -, dann hättest du vielleicht auf den Teil deines Verstandes gehört, der dir intuitive, reflexartige Antworten gibt.

Dieser intuitive Verstand sagt dir vielleicht: „Das ist einfach. Die Hälfte des Feldes, 48 Tage. Die Antwort muss die Hälfte von 48 sein, also 24!“

Doch das ist falsch. Wenn sich die Fläche des Löwenzahns jeden Tag verdoppelt, ist das Feld in dem Moment, in dem es 50 % der Fläche bedeckt, nur noch 24 Stunden davon entfernt, 100 % der Fläche zu bedecken. Wir sollten erwarten, dass der Löwenzahn an Tag 47 die Hälfte des Feldes bedeckt. Nicht an Tag 24.

Was genau misst man mit dieser Frage?

Sicherlich werden mathematische Fähigkeiten benötigt. Die benötigten Fähigkeiten sind verhältnismäßig einfach. Die meisten Menschen – selbst die meisten Studenten – schneiden bei Fredericks Testfragen ziemlich schlecht ab. Sie haben zwar die geistigen Fähigkeiten, um die Aufgaben zu lösen, beantworten sie aber trotzdem falsch.

Wenn sie etwas falsch machen, geben sie dabei nicht eine zufällige falsche Antwort. Meistens geben sie die selbe falsche Antwort.

Wenn man sie im eingangs beschriebenen Beispiel nach dem Gebiet fragt, das sich jeden Tag verdoppelt, sagen die meisten Menschen, die sich irren, dass die Antwort 24 ist.

Und viele derjenigen, die die richtige Antwort finden, tun dies erst, nachdem sie dieselbe falsche, aber verlockende Antwort in Betracht ziehen – und verwerfen.

Der Antwort 24 liegt also etwas intuitives inne. Um die richtige Antwort zu finden, muss man diese Intuition offenbar überwinden.

Wenn man bei dieser Frage versagt, liegt das meist daran, dass man nicht innehält und nachdenkt. Es gelingt nicht, kognitive Überlegungen anzustellen.

Weltweit befinden sich die Menschen in einer Krise voller Fehlinformationen und Leichtgläubigkeit. Man könnte meinen, wir seien dem Untergang geweiht, weil es uns an Weisheit mangelt oder weil wir zu sehr auf unsere persönlichen Vorurteile fixiert sind, um unbefangen an Dinge heranzugehen.

Schließlich ist Intelligenz mit kognitiver Reflexion verbunden. Menschen, die bei Tests zu kognitiven Fähigkeiten (IQ) besser abschneiden, schneiden auch beim Cognitive Reflection Test (CRT) von Shane Frederick besser ab.

Außerdem ist es eine bekannte Tatsache, dass wir alle dem „Confirmation Bias“ unterliegen – der Neigung, Informationen zu suchen und zu bevorzugen, die unsere eigenen, bereits bestehenden Überzeugungen bestätigen. Wenn wir auf Informationen stoßen, die diese Überzeugungen in Frage stellen, versuchen wir, sie zu ignorieren. Oder wir versuchen, sie wegzuerklären.

Schwacher Zusammenhang zwischen Intelligenz und kognitiver Reflexion

Obwohl Intelligenz mit kognitiver Reflexion verbunden ist, ist die Verknüpfung nicht sehr stark.

Ja, wer gut mit Zahlen umgehen kann, schneidet beim CRT gut ab, denn die Testfragen erfordern oft mathematische Überlegungen. Doch wie sieht es mit allgemeinen kognitiven Fähigkeiten aus?

Ein hoher IQ ist keine Garantie dafür, dass man den CRT besteht. In einer Studie schnitten weniger als 50 % der MIT-Studenten beim CRT gut ab.

Auch eine hohe Denkfähigkeit ist keine Voraussetzung, um gut abzuschneiden. Beim CRT kommt es nicht auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns an. Es geht darum, ob du dich entscheidest, die Ressourcen deines Gehirns zu nutzen, um analytisch zu denken – um von einem einfachen, intuitiven, automatisierten Denkmodus in einen langsameren, bewussteren und aufwändigeren zu wechseln.

Zudem wissen wir, dass unsere Motivationen und Vorurteile Menschen nicht daran hindern, die Wahrheit herauszufinden.

Menschen, die bei der kognitiven Reflexion gut abschneiden, sind weniger dazu geneigt, Fake News zu akzeptieren und weiterzugeben – selbst wenn diese Fake News ihren eigenen Vorurteilen entsprechen.

Welche Rolle spielt Aufgeschlossenheit?

Wir brauchen Aufgeschlossenheit, um Neues zu lernen, um bessere Lösungen zu finden und um Fehler zu erkennen. Allerdings garantiert sie nicht, dass wir vernünftig denken. Nicht automatisch.

Was ist, wenn du so aufgeschlossen bist, dass du viele Aussagen ohne Vorbehalte annimmst?

Ohne kritisches Denken kann Aufgeschlossenheit zu denselben Fehlern und Widersinnigkeiten führen, die mit sturer Engstirnigkeit in Verbindung stehen.

Deshalb gilt: Die wichtigste Voraussetzung für kritisches Denken ist nicht eine hohe kognitive Fähigkeit. Unsere Überzeugungen und Vorurteile sind nicht die größten Hindernisse im Kampf gegen Fehlinformationen. Aufgeschlossenheit schützt uns nicht davor, getäuscht zu werden.

Der entscheidende erste Schritt für kritisches Denken ist innezuhalten und nachzudenken. Sei bereit, neue Aussagen in Betracht zu ziehen, doch akzeptiere sie nicht sofort. Lass dir Zeit, um deine Annahmen zu hinterfragen und die Beweise abzuwägen.

Tipps für kritisches Denken

Wie sieht das nun aber konkret aus? Was sollten wir tun, wenn wir auf ein neues Rätsel, eine Behauptung oder einen Bericht in den Nachrichten stoßen?

Ich habe hier keine speziellen Studien zu zitieren. Aber Forscher und Experten für Faktenüberprüfung sind sich in den meisten Fällen über diese grundlegenden Tipps einig.

1. Erkenne, dass du in einen bewussten, skeptischen Denkprozess übergehen musst.

Wenn du eine neue Behauptung oder Geschichte hörst, entscheide dich bewusst dafür, deine analytischen Fähigkeiten einzuschalten. Und sei besonders vorsichtig, wenn das Thema ausgeprägte Emotionen hervorruft. Das macht uns nämlich besonders leichtgläubig, und das erkennen und nutzen bösartige Akteure.

2. Überprüfe die Quelle.

Wer sagt das? Wenn es sich um eine Behauptung oder eine Geschichte handelt, ist der Autor genannt? Wer ist diese Person? Führe eine eigenständige Recherche im Internet durch. Kannst du nachprüfen, ob es diese Person gibt? Sind seine oder ihre Referenzen echt? Wer hat und mit welchem Ziel wurde es veröffentlicht? Stammt es von einer seriösen Website oder Medienorganisation?

3. Analysiere.

Akzeptiere niemals Behauptungen auf der Grundlage eines Slogans, einer Schlagzeile oder eines Tweets. Diese Kurzmeldungen sollen deine Aufmerksamkeit erregen, dich manipulieren und zum Anklicken animieren. Dabei werden oft wichtige Details ausgelassen, die das Gesamtbild der Story völlig verändern können.

Wie factcheck.org feststellt, sind manche Geschichten sogar als Parodie oder Satire gedacht. Die Überschriften verraten das nicht. Man muss die Story lesen, um zu verstehen, dass es sich um einen Scherz handelt.

4. Achte auf gängige manipulative Tricks.

Ist der Artikel aufsehenerregend, schockierend oder emotionsgeladen? Handelt es sich um einen persönlichen Angriff oder um Trolling? Hängt der Effekt davon ab, dass eine „Wir-gegen-die“-Reaktion ausgelöst wird? Nichts von alledem macht eine Behauptung wahr. Doch sie ermutigen uns, leichtgläubig zu sein. Fallt nicht drauf rein. Suche nach handfesten Beweisen.

5. Reflektiere deine eigenen Ansichten und überprüfe die Fakten.

Du denkst vermutlich, dass was du liest Neuigkeiten sind. Aber sind sie es wirklich? Überprüfe das Datum des Materials, um sicherzugehen.

Du könntest auch annehmen, dass die Behauptungen durch Beweise belegt sind. Doch hat der Autor auch seriöse Quellen genannt? Wenn ja, sagen diese Quellen tatsächlich das aus, was der Autor behauptet?

Und benutze deinen gesunden Menschenverstand. Wenn es sich um eine bedeutende Begebenheit handelt und sie wahr ist, dann sollte sie auch in den Medien erwähnt werden.

Du weißt nicht, wo du nach Antworten suchen sollst? Versuche, die Schlüsselwörter zusammen mit dem Namen einer seriösen Organisation zu suchen, die Fakten überprüft.

Kindern die Notwendigkeit von Innehalten und Nachdenken vermitteln

Was sollten wir unseren Kindern also über die Notwendigkeit des Innehaltens und Nachdenkens vermitteln?

Der wichtigste Punkt ist, dass es nicht eine einzige Lektion oder Fähigkeit gibt, die dich zu einem guten kritischen Denker macht.

Kritisches Denken funktioniert nicht auf diese Weise. Es ist nicht etwas, das du von einem Tag auf den Anderen beherrschst, wie beispielsweise das Fahrradfahren, und dann für immer gut darin bist.

Stattdessen ist es eine fortlaufende, anstrengende Disziplin. Man muss sich immer wieder aktiv daran erinnern, sein bewusstes, reflektierendes und überlegendes Gehirn einzuschalten.

Es ist auch für Erwachsene wichtig, zu bedenken, wie wir unseren Kindern – manchmal ungewollt – beibringen, kritisches Denken zu vermeiden.

Zunächst einmal das Naheliegende. Wenn wir bei der Erziehung – oder beim Unterrichten – einen autoritären Ansatz wählen, vermitteln wir eine abschreckende Botschaft. Du sollst nur Befehle befolgen. Fragen sind nicht erlaubt.

Das ist das Hauptmerkmal des Autoritarismus – das Beharren auf bedingungslosem Gehorsam. Und das verträgt sich einfach nicht mit kritischem Denken.

Man muss aber nicht unbedingt autoritäre Disziplin praktizieren, um kritisches Denken zu verhindern.

Ich kenne Fernsehsendungen, die Vorschulkindern ein schlampiges Denken beibringen, das sie von ihren MINT-Erfolgen abhalten kann.

Das passiert auch zu Hause und im Klassenzimmer – wenn Erwachsene unbeabsichtigt Irrtümer oder falsche Vorstellungen weitergeben.

Und es gibt noch andere Probleme. An einigen Schulen einen besorgniserregenden Trend. Im Namen des Unterrichts der Beweisführung und der strukturierten Argumentierens werden den Kindern einige sehr fragwürdige Aufgaben gestellt.

Gucken wir uns ein Beispiel für eine solche Frage an:

„Machen brutale Videospiele die Menschen im Alltag gewalttätiger?“

Das ist eine Frage, über die Kinder manchmal debattieren oder schreiben sollen. An der Fragestellung an sich ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Nicht, wenn die Kinder über die besten verfügbaren wissenschaftlichen Beweise informiert sind.

Doch in der Regel sind die Kinder nicht informiert. Was geschieht dann? Was passiert, wenn wir Schüler/innen auffordern, sich für eine bestimmte Sichtweise zu entscheiden und diese zu vertreten, ohne die Hintergründe zu kennen?

Anstatt kritisches Denken zu lehren, lehren wir etwas anderes, etwas, das dem kritischen Denken entgegensteht.

Beschaffe keine Informationen. Analysiere nicht. Überprüfe nicht. Deine spontanen Vermutungen und dein Gefühl reichen aus.


Was sollten wir also dagegen tun?

  • Wir müssen – respektvoll, aber selbstbewusst – kulturelle Praktiken in Frage stellen, durch die Kinder dafür belohnt werden, dass sie falsche Annahmen übernehmen und voreilige Schlussfolgerungen ziehen.
  • Wir müssen Kinder dazu ermutigen, sich zu äußern, wenn etwas keinen Sinn ergibt.
  • Wir sollten ihre Fragen begrüßen, ihre Skepsis wertschätzen und ihnen zeigen, wie sie Nachweise finden – und abwägen – können.

Womit fängt das an? Es beginnt im Alltag.

Wenn ein Kind dich mit einer Frage verblüfft (z. B. „Warum weinen Menschen, wenn sie traurig sind?“ oder „Wie können Flugzeuge fliegen?“ oder „Ist die Erde der einzige Planet mit Leben?“), sei offen.

Sag deinem Kind: „Das ist eine gute Frage! Das weiß ich nicht.“

Zeige deinem Kind dann, wie es Antworten finden kann – wie es herausfinden kann, was Wissenschaftler/innen über das Thema wissen.

Und wenn sich herausstellt, dass es keine Antworten gibt?

Dann habt ihr noch mehr zu besprechen. Was könnten Wissenschaftler tun, um diese Frage zu beantworten? Welche Art von Informationen müssten sie sammeln? Oder ist dies möglicherweise ein unlösbares Mysterium für die Wissenschaft?

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/sitzung-schule-jung-kind-6936380/

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